Funktionsweise

Theorie und Praxis

Glaubt man gängigen Marketingsprüchen, dann sind Vokabeltrainer wahre Wunderwaffen gegen das Vergessen. Dass es in der Praxis häufig ganz anders aussieht, möchte ich mit einer kleinen (nicht ganz) fiktiven Geschichte illustrieren:

Karsten und Dieter, zwei befreundete Studenten, gehen eines Tages koreanisch essen. Dort treffen sie auf eine wunderschöne koreanische Bedienung. Bezaubert von der jungen Frau, beschließen die Freunde spontan, in den Semesterferien Koreanisch zu erlernen.

Karsten ist Pragmatiker. Er kauft sich ein kleines Büchlein mit den wichtigsten koreanischen Redewendungen und reist nach Korea, wo er eine schöne Zeit verbringt.

Dieter ist eher der Theoretiker. Er macht sich im Internet über die besten Lernmethoden kundig, besucht einen Koreanisch-Kurs und benutzt intensiv einen Wunder-Vokabeltrainer, dessen Hersteller ihm ein Supergedächtnis versprochen hat.

Am Ende der Ferien wollen die Freunde herausfinden, wer von ihnen am besten Koreanisch kann. Gemeinsam besuchen sie wieder das koreanische Restaurant. Sie wollen die hübsche Koreanerin entscheiden lassen. Dort erlebt Dieter sein blaues Wunder. Während Karsten auf Koreanisch mit der Bedienung flirtet, bringt Dieter nur mühsam einige gestammelte Sätze hervor.

Dieter ist frustriert. Waren alle seine Bemühungen umsonst? Er geht zu seinem Koreanisch-Lehrer und erzählt von seinem Debakel. Der Lehrer kann das nicht so recht glauben und will sich selbst ein Bild machen. Um sich nicht von seinem subjektiven Eindruck beeinflussen zu lassen, müssen die Freunde einen schriftlichen Koreanisch-Test absolvieren. Das Ergebnis ist klar: Dieter kann viel besser Koreanisch als Karsten, der im Test nur wenige Vokabeln und Redewendungen beherrscht.

Dieter triumphiert. Er erklärt seinem Freund, dass methodisches Vorgehen eben nicht zu schlagen sei. Karsten stört das wenig. Er hat noch eine Verabredung mit einer gewissen Koreanerin.

Was ist passiert? Wer kann nun besser Koreanisch? Die Antwort ist einfach: Das hängt davon ab, wie gemessen wird. Karsten hat nur wenige Redewendungen gelernt, die aber beherrscht er bis zu Alltagstauglichkeit. Dieter hingegen hat sich eine große Vokabelmenge vorgenommen. An die kann er sich zwar mit etwas Nachdenken erinnern, aber es reicht nicht für ein Alltagsgespräch. Die Situation läßt sich durch das bekannte Gesetz der Übung darstellen:

Gesetz der Übung

Übung macht den Meister. Dieses Gesetz läßt sich nicht überlisten (wohl aber etwas strecken oder stauchen). Wer etwas sehr gut können will, muß es häufig üben. (Die Grafik stellt keine absoluten Werte dar, sondern dient nur der Illustration.)

Und die Moral von der Geschicht':

  1. Wer das Herz einer Frau erobern will, sollte nicht allzu sehr auf die Theorie vertrauen :-)

  2. Angaben zur Effektivität von irgendwelchen Lernmethoden sind immer von den Randbedingungen abhängig, unter denen sie gemessen wurden. Mit der Praxis hat das oft wenig zu tun.

Mit dem Beispiel wird auch klar, warum manche Menschen von Vokabeltrainern begeistert sind, während andere ihr Programm am liebsten frustriert in die Ecke werfen möchten. Jeder Vokabeltrainer ist auf bestimmte Ziele optimiert. Diese stimmen aber nicht immer mit den Erwartungen des Lernenden überein.

Grundprinzip

Dieser Abschnitt gilt für alle modernen Vokabeltrainer, die einen Algorithmus mit zunehmenden Abfrageintervallen (Spaced Repetition) verwenden. Das bekannte Lernkarteisystem nach Leitner simuliert die Intervalle allerdings nur über die Kästchengröße und funktioniert im hier beschriebenen Sinne nur bei regelmäßigem Lernen.

Ebbinghaussche Vergessenskurve

Die Ebbinghaussche Vergessenskurve zeigt die Menge von Erinnerungen in Abhängigkeit von der Zeit. Nach einer Woche verbleiben nur 20% des Gelernten im Gedächtnis. Diese Form der Kurve gilt für sinnlosen Lernstoff.

Laut Vergessenskurve wird das meiste bereits in den ersten Tagen vergessen. Dinge, die nach einigen Tagen noch im Gedächtnis sind, verbleiben mit hoher Wahrscheinlichkeit auch noch einige Tage länger dort.

Der Vokabeltrainer wiederholt deshalb neue oder vergessene Vokabeln frühzeitig, während die Wiederholungsintervalle für erinnerte Vokabeln verlängert werden. Auf diese Weise werden schwer zu lernende Vokabeln häufiger abgefragt. Die Abfrageintervalle werden so lange verlängert, bis relativ sicher ist, dass sich die Vokabeln im Langzeitgedächtnis befinden. Auf diese Weise wird der Lernstoff über die gesamte Breite gleichmäßig im Gedächtnis verankert.

Das Ziel ist es also möglichst viele Vokabeln zu jedem Zeitpunkt einigermaßen gut zu können und so eine gute Basis für weiteres Lernen zu schaffen.

Dieses Ziel ist in den meisten Fällen erwünscht, da neue Kapitel eines Lehrkurses normalerweise auf den alten aufbauen und bei Wissenslücken schlecht gelernt werden können.

Vorteile

Auf einen Blick

  1. Vokabeln gelangen ins Langzeitgedächtnis.

  2. Der Lernstoff wird gleichmäßig gut gelernt.

  3. Ausnutzen des Spacing-Effekts: Es ist effektiver, den Lernstoff über einen längeren Zeitraum zu verteilen als kurzzeitig intensiv zu üben.

Vokabeln gelangen ins Langzeitgedächtnis

Vokabeln müssen ins Langzeitgedächtnis. Wer nur kurzfristig lernt und altes Material nicht wiederholt, vergißt dieses mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder. Das Lernen war umsonst (Prüfungslerner mögen eine andere Meinung haben) und langfristig tun sich große Wissenslücken auf.

Der einzige Weg, um zu überprüfen, ob sich etwas im Langzeitgedächtnis befindet, ist nach längerer Zeit nachzufragen. In der Literatur finden sich Angaben von einem Monat bis zu einem Jahr.

Tatsächlich ist so etwas schwer zu bestimmen. Jeder weiß, dass man sich an bestimmte Dinge manchmal erinnert und manchmal nicht. Wenn sich eine Vokabel im Langzeitgedächtnis befindet, sagt das eigentich nur, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie auch in den nächsten Jahren dort verbleibt. Es ist keine Garantie dafür, dass sie nicht vergessen wird.

Allerdings kann man davon ausgehen, dass Wissen, dass einmal ins Langzeitgedächtnis gelangt, auch nach vielen Jahren schnell wieder reaktiviert werden kann. Ein typisches Beispiel ist eine Sprache, die jemand jahrelang nicht gesprochen hat. Wenn er durch einen Auslandsaufenthalt wieder gezwungen wird, diese Sprache zu sprechen, ist sein Können in den ersten Tagen eher holprig. Nach einigen Tagen oder Wochen geht es dann wieder recht flüssig.

Lernstoff wird gleichmäßig gut gelernt

Beim manuellen Lernen wird typischerweise einiges sehr gut gelernt und anderes weniger gut oder überhaupt nicht. Das kann manchmal erwünscht sein (wie bei Karsten in der obigen Geschichte), meistens aber nicht, denn dadurch entstehen Wissenslücken, die das Weiterlernen massiv behindern können.

Der Vokabeltrainer stellt sicher, dass alle Vokabeln gelernt werden.

Ausnutzen des Spacing-Effekts

Der Spacing-Effekt besagt, dass es effektiver ist, Lernmaterial über einen längeren Zeitraum zu wiederholen als über einen kurzen. Oder mit anderen Worten: Es ist ineffektiv, Dinge, die man gut kann, häufig zu wiederholen.

Die Auswirkungen des Spacing-Effekts werden häufig überschätzt. Viele Experimente kommen auf eine Zeitersparnis von ca. 30% unter Laborbedingungen. In der Realität dürfte die Zeitersparnis weit darunter liegen, denn:

  1. Kein vernünftiger Mensch lernt Material, dass er schon recht gut kann, immer wieder. Das ist zu Recht langweilig.

  2. Der Spacing-Effekt konnte in einigen Studien nicht festgestellt werden, wenn der Lernstoff gut miteiander verknüpfbar war oder die Probanden ihn tiefer/gründlicher verarbeitet haben. Oder auch: Je sinnloser der Stoff, desto größer der Spacing-Effekt.

Bei gutem Lehrstoff dürften die Vorteile durch den Spacing-Effekt eher gering ausfallen, wobei reine Auswendiglerner wahrscheinlich mehr profitieren als gute Lerner, die den Stoff besser verarbeiten.

Nachteile

  1. Verführung zum stumpfen Auswendiglernen.

    Vokabeltrainer basieren auf einem einfachen Reiz-Reaktions-Mechansismus. Das ist zwar sehr bequem, verführt aber so manchen dazu, seinen Verstand abzuschalten.

    Lernmaterial wird aber viel besser behalten, wenn es tiefer verarbeitet wird. Wer nur auswendig lernt, verzichtet auf die größten Lernbeschleuniger.

  2. Die Praxis kann durch reines Auswendiglernen nicht ersetzt werden.

    Die Anforderungen in der Praxis sind fast immer höher als durch Auswendiglernen erreicht werden kann. So muß beispielsweise Sprache im Alltag frei gesprochen und immer wieder neuartig formuliert werden. Dazu sind andere Gehirnregionen notwendig als zum bloßen Informationsabruf.

    Auch Faktenwissen bleibt tot und nutzlos, wenn es für uns keine Bedeutung besitzt. Bei Informationen müssen wir uns immer fragen, ob und wozu wir sie nutzen können.

Lernbremsen und Beschleuniger

Bremsen

  1. Zu viel gleichartiger Stoff auf einmal.

    Ja, man kann tatsächlich zu viel lernen. Insbesondere sehr ähnlicher Lernstoff neigt dazu, im Gehirn durcheinander zu geraten. In diesem Fall ist es bessern, das Lernen auf mehrere Tage zu strecken.

  2. Zu viel ins Arbeitsgedächtnis.

    Das ist ein typischer Fehler von Vokabellernern. Sie versuchen, zu viele Vokabeln auf einmal zu behalten.

    Das Arbeitsgedächtnis ist aber klein und neue Informationen verdrängen die alten rückstandslos. Dieser Vokabeltrainer wiederholt deshalb neue Vokabeln in kurzen Abständen.

Beschleuniger

  1. Matthäus-Effekt.

    Untersuchungen haben gezeigt, dass gute Schüler etwa neun mal besser lernen als schlechte.

    Einen großen Anteil an diesem Unterschied hat der Matthäus-Effekt. Er besagt einfach, dass jemand, der bereits viel weiß, Neues schneller aufnehmen kann. Oder: Je besser neue Informationen mit bereits bekannten verknüpft werden können, desto besser wird behalten.

  2. Tiefe Verarbeitung: Wer denkt, profitiert.

    Wer sich intensiv mit dem Lehrmaterial auseinandersetzt, Fragen dazu stellt und Übungen absolviert, behält besser. Das ist natürlich nicht vom Matthäus-Effekt zu trennen.

  3. Konzentration auf den Stoff.

    Weiß eigentlich jeder. Wer abgelenkt ist, lernt schlecht. Oft hilft Sport, ein Spaziergang oder Meditation, um den Kopf wieder klar zu kriegen.

    Dieser Vokabeltrainer versucht, durch einfaches Design dem Lernen möglichst wenig im Weg zu stehen.

  4. Strukturiertes Lehrmaterial.

    Da Verknüpfungen mit bekannten Informationen Lernen stark beschleunigen, muß Lehrmaterial qualitativ hochwertig strukturiert sein.

    Es ist völlig sinnlos, schlechtes Material zu pauken und zu glauben, der Vokabeltrainer wird es schon richten.

    Fürs Vokabellernen bedeutet das, dass Vokabeln immer mit Beispielsätzen gelernt werden sollten. Manche empfehlen auch, nur Sätze zu lernen. Dieser Ansatz hat sich bei mir persönlich aber nicht bewährt. Es hängt wahrscheinlich vom Vorwissen ab.

    Auch ist gutes Begleitmaterial notwendig, denn ein Vokabeltrainer ist nur eine Basis für weitergehendes Lernen. Das heißt, wer eine Sprache erlernen will, sollte sich erst einen Kurs aussuchen und dann eine Vokabelsammlung benutzen, die darauf abgestimmt ist.

  5. Guter Schlaf.

    Im Schlaf werden die Informationen des Tages weiter verarbeitet und geordnet. Viele kennen den Effekt, dass Dinge, die an einem Tag sehr schwer waren, am nächsten auf einmal ganz leicht gehen. Das ist das Wunder des Schlafes.

    Studenten, die tagsüber lernen und sich nachts mit einer Party belohnen wollen, tun sich also keinen Gefallen. Ich kenne aber keine quantitative Studie zu dem Thema, obwohl sich genügend Probanden finden lassen müßten :-)

Fazit

Vokabeltrainer mit zunehmenden Abfrageintervallen, wie dieser hier, sind äußerst nützliche Werkzeuge. Sie bewirken aber keine Wunder und befreien nicht von eigenem Denken und weitergehendem Lernen.

Literaturverzeichnis

[Funke] Joachim Funke. Lernen und Gedächtnis. Folien zur Vorlesung. Universität Heidelberg. 2006. Sehr schöner Überblick. Ich habe spontan Lust bekommen, die Vorlesung zu besuchen .

[Spitzer] Manfred Spitzer. Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Spektrum Akademischer Verlag. 2006. Hervorragendes Buch für jeden, der sich ernsthaft dafür interessiert, wie Lernen funktioniert .

[Leitner] Sebastian Leitner. So lernt man lernen. Verlag Herder. 2011. Das Original ist von 1972 und immer noch gut. Sein Karteikastensystem ist nach heutigem Wissensstand veraltet, aber auch die modernen Vokabeltrainer basieren auf den gleichen Prinzipien .

[Wahl] Diethelm Wahl. Ergebnisse der Lehr-Lern-Psychologie. 2006.

[Caple] Carlous Caple. The Effects Of Spaced Practive And Spaced Review On Recall and Retention Using Computer Assisted Instruction. North Carolina State University, Department Of Occupational Education. 1996.