13 Ein Streifzug durch die Geschichte

Obwohl die Namenstheorie erst in neuerer Zeit nahezu vollständig entwickelt wurde, so gab es doch schon zu jeder Zeit Kenner der Materie, die sich schon damals die heute so revolutionären Techniken zunutze machten.

Der listenreiche Odysseus war meines Wissens der erste Nutznießer der Namenstheorie. Mit Hilfe seiner Namenskenntnisse konnte er den Zyklopen Polyphem besiegen. Erinnern wir uns. Als Odysseus auf den Zyklopen traf, stellte er sich klugerweise mit „Mein Name ist Niemand.“ vor. Der Zyklop sperrte Odysseus und seine Männer in seine Höhle, indem er einen schweren Stein davorstellte, und wollte sie fressen. Odysseus und seiner Gefolgschaft gelang es jedoch dem Zyklopen sein einziges Auge auszustechen. Der Zyklop rollte den Stein von der Höhle und rief seine Kameraden zu Hilfe. Auf dessen Fragen, was denn passiert sei, antwortete er: „Niemand hat mir etwas getan.“ Die anderen Zyklopen machten daraufhin keinerlei Anstalten, ihrem verletzten Genossen zu helfen. Odysseus und seine Leute nutzten die Gelegenheit zur Flucht.

An diesem Beispiel sehen wir, daß das Wissen um die Wirkung von Namen schon in der Antike eine überragende Bedeutung hatte, da die Sagen Homers in der alten Welt als wohlbekannt vorausgesetzt werden dürfen. Wir erkennen sogar, daß die Namenstheorie in wenigen Fällen lebenswichtig sein kann.

Alexander der Große, ein Schüler des Aristoteles übernahm das griechische Wissen. Mit Hilfe seiner Kenntnisse gelang es ihm, das erste abendländische Weltreich aufzubauen. Alexander war sich bewußt, daß der Beiname der Große seiner Persönlichkeit Macht und Einfluß verleihen würde. Außerdem war er es, der eine Urform der progressiven Heirat der breiten Öffentlichkeit zugänglich machte. Selbst mit gutem Beispiel vorangehend heiratete er die Prinzessin Roxane und veranstaltete Massenhochzeiten zwischen Makedoniern und orientalischen Frauen. Auch sonst zeigte sich Alexander fortschrittlich. Er zerschlug den gordischen Knoten, und die von ihm gegründete Stadt Alexandria wurde zum Zentrum des antiken Wissens. Das Weltreich zerfiel nach seinem Tod, weil Alexander keinen erwachsenen Erben hatte und sich seine Heerführer zerstritten. Sein einziger Sohn Alexander wurde ermordet. Diese Todesart war damals recht häufig und wurde ebenso akzeptiert, wie heutzutage der Tod durch Verkehrsunfall. Der Name Alexander überdauerte jedoch die Jahrtausende und wurde zum Synonym für geistige und geschichtliche Größe. Zahlreiche Personen versuchten immer wieder an die Erfolge Alexanders anzuknüpfen, indem sie seinen Namen wählten.

Nach dem Zerfall des Alexanderreiches entfaltete sich die römische Kultur über den Mittelmeerraum. Von Julius Cäsar wird überliefert, daß er einen Sklaven mit einem phänomenalen Namensgedächtnis besaß. Dadurch war es ihm möglich, bei seinen Gängen durch Rom alle wichtigen Leute mit ihrem Namen zu begrüßen. Die so angesprochenen wähnten sich in der besonderen Gunst Cäsars und unterstützten ihn mit all ihren Möglichkeiten. Erst dadurch wurde es Cäsar möglich zum Imperator des römischen Reiches aufzusteigen. Cäsar erfuhr die seltene Ehrung, daß sein Name zum Titel wurde und sich später zu Kaiser entwickelte. (Streng genommen war bereits Cäsar ein Beinahme, der dem Geschlecht der Julier nach dem ersten punischen Krieg verliehen wurde.)

Woher die Römer ihr Wissen über die Namenstheorie hatten, ist nicht ganz klar, fest steht aber, daß sie einen Teil ihrer Kenntnisse von der griechischen Kultur übernommen haben. Eindeutig ist auch, daß sie der Theorie große Bedeutung beimaßen. Die Weisheit nomen est omen hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Zur Zeit des römischen Weltreiches entstand vermutlich auch die Pseudowissenschaft der Namologie. Vertreter dieser Lehre verweisen beständig auf ihre Wurzeln im altrömischen Wissen, mir sind aber keine zuverlässigen Quellen bekannt, die diese Aussage unterstützen könnten.

Inwieweit die Römer die Namenstheorie nutzten, um ihr Weltreich zu festigen, ist Gegenstand der aktuellen Forschung. Es ist bekannt, daß römische Namen grundsätzlich mit der Endsilbe us endeten, z. B. Gaius, Probus, Carinus, römische Städte und Lager hingegen mit um. Es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, daß die klugen und gebildeten Römer die psychologischen Wirkungen dieser Strategie kannten. Das Prinzip der Relativität verrät uns, daß die Ähnlichkeit der Namen Vertrauen hervorruft. Die gleichen Namensendungen müssen zu einer großen Solidarität der Römer untereinander geführt haben. Auch die angrenzenden Völker wurden wirksam abgeschreckt. Die vielen Namen mit gleicher Endung erweckten ohne Zweifel den Eindruck eines gigantischen Reiches.

Mit dem Untergang des römischen Reiches scheint auch das damalige Wissen über die Namenstheorie verlorengegangen zu sein. Es gab aber im Laufe der Geschichte immer wieder Menschen, die ganz offenbar von der Wirkung der Namen wußten.

Casanova hat den Ruf, der größte Frauenheld der Weltgeschichte zu sein. Für Kenner der Namenstheorie ist das kein Wunder, denn sein voller Name lautete Giovanni Giacomo Casanova. Dieser Name muß auf die Frauen seiner Zeit gewirkt haben, wie heutzutage die Einladung zum Kaffeetrinken im Wasserbett. Ob Casanova sich der Wirkung seines Namens bewußt war, wissen wir nicht, es ist aber bekannt, daß er kein schöner Mann war.

Auch von Wellington, der zusammen mit Blücher Napoleon in der Schlacht bei Waterloo eine vernichtende Niederlage zufügte, wird angenommen, daß er etwas von der Namenstheorie wußte. So soll er vor seinem Feldzug in Portugal beim Einblick in die Liste seiner Offiziere gesagt haben: „Ich hoffe, daß der Feind angesichts dieser Namen genauso zittert wie ich.“

Erhalten hat sich auch die Technik des Beinamens. Immer wieder machten sich große Persönlichkeiten diese Methode zunutze. Der Alte Fritz, der Sonnenkönig, Karl der Kahle, Friedrich der Gebissene, Iwan der Schreckliche und König Lustik sind nur einige Beispiele.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Namenstheorie auch in Zukunft von großer Bedeutung sein wird. Erste Einblicke können die Science–Fiction–Autoren gewähren, deren Voraussagen schon häufig zutreffend waren. Ich habe gerade (August 1993) eine Folge der Fernsehserie Raumschiff Enterprise — Das nächste Jahrhundert gesehen, in der die Schiffsärztin ein Buch mit dem Titel Wie man seine Karriere durch Heirat vorantreibt aus ihrem Koffer nimmt. Das Buch hatte einen beträchtlichen Umfang! Wird es sich um eine Weiterentwicklung der progressiven Heirat handeln, oder wird der Autor die schon heute bekannte Technik nur über hunderte von Seiten ausdehnen?

Exkurs für Philosophen: Es gibt eine Theorie, nach der das Universum holistisch aufgebaut ist. Jedes Objekt steht in Wechselwirkung mit allen anderen Objekten zu jeder Zeit. Im Rahmen dieser Theorie ist es tatsächlich möglich, daß Informationen von der Zukunft in die Gegenwart gelangen können. Realitäten der Zukunft würden sich also irgendwie in der Gegenwart manifestieren. Besonders geeignet erscheinen hierfür die Gehirne besonders phantasievoller Schriftsteller und Drehbuchautoren. Die von ihnen erfundenen Geschichten könnten eine Art Zerrspiegel der Zukunft darstellen (Ihre Phantasie würde natürlich auch auf die Zukunft einwirken). In diesem Fall hätte ich allzu gerne einen Blick in das Buch Wie man seine Karriere durch Heirat vorantreibt geworfen. Leider wird in der Fernsehfolge nicht näher darauf eingegangen. Sternenschiffe werden wohl in Zukunft wichtiger sein.

Die Theorie des holistischen Universums hätte natürlich auch andere Konsequenzen. Scheinbare Phantasiegeschichten könnten tiefe Wahrheiten über das Leben enthalten. Ich verweise hier auf den berühmten Schriftsteller Douglas Adams. Sein Vorname dürfte jeder Frau bekannt sein. Er ist offensichtlich eine Konsequenz aus der Namenstheorie, wonach Kinder in Zukunft öfter nach Konsumprodukten oder Markennamen benannt werden. Wir dürfen daher die Zahl 42 als Schlüssel für die große Frage ansehen 7 . Es fehlte bisher nur die richtige Interpretation. Sehen Sie doch einmal in einem vielversprechendem Buch auf Seite 42 nach, nehmen sie das zweiundvierzigste Buch aus dem Regal oder unterhalten Sie sich mit jemandem, der die Zimmernummer 42 in Ihrer Universität besitzt. Vielleicht wohnen Sie auch gerade in einem Hotel. Haben Sie schon einmal die 42 bei der Stichwortsuche in einer Bibliothek angegeben? Tun Sie, was Sie wollen, aber gehen Sie der Zahl 42 auf den Grund!

Auch naturwissenschaftliche Konsequenzen wären aus der Theorie des holistischen Universums zu ziehen. Endlich wäre eine sinnvolle Erklärung für Evolutionssprünge gefunden, weil die notwendigen Informationen ja ganz offensichtlich bereits in der Zukunft existieren. Außerdem würde das Gedankenmodell hervorragend mit Sheldrakes Theorie der morphogenetischen Felder harmonieren.

Wenn es in der heutigen Zeit der Diskotheken keine Hörgeräte geben würde,
ständen Hörrohre im Ruf eines schicken modischen Accessoires.
S. Schulze