6 Ein kleines Spiel

Sie sind sicherlich neugierig, die Wirkung von Namen am eigenen Leib zu erfahren. Ich schlage daher ein kleines Spiel vor, das Namenspiel.

Begeben Sie sich mit einem Bekannten an einen Ort, wo Sie viele unbekannte Menschen sehen, beispielsweise ein Café in einer Fußgängerzone, eine Kneipe oder ein Jahrmarkt. Beobachten Sie einige dieser Leute genau und versuchen Sie sich ihren Charakter auszumalen. Stellen Sie sich vor, was die betreffende Person von Beruf ist, wie klug sie ist, ob hinterhältig und gemein oder ehrlich und edel. Ist sie gesellig oder eher Einzelgänger? Welche Sportarten betreibt sie? Wie heißt sie? Kurz, lassen Sie in ihrem Kopf ein Bild entstehen wie von einem alten Freund.

Nun kommt Ihr Bekannter ins Spiel. Er nennt Ihnen den Namen der entsprechenden Person. Ideal wäre es, wenn er den Namen der beobachteten Person tatsächlich kennen würde. Das ist leider nur selten der Fall und er wird sich den Namen ausdenken müssen. Überreden Sie vorher Ihren Bekannten möglichst aussagekräftige Namen zu vergeben, z. B. Trottl, Sänger, Oberklug, Meier, Wucherpfennig und Kirchgang.

Nach der Nennung des Namens werden Sie feststellen, wie sich das Bild in Ihrem Kopf verändert. In manchen Fällen werden Sie denken: „Donnerwetter, das paßt ja wie die Faust aufs Auge!“ in anderen „Das hätte ich nun wirklich nicht erwartet.“ Sie werden verblüfft sein!

Falls Sie es sind, der sich die Namen ausdenken soll, beherzigen Sie bitte ein paar kleine Tips. Aussagekräftige Namen in diesem Spiel sind Namen, unter denen sich sofort jeder etwas vorstellen kann, wie Schelm, Schlau, Hustenpruster oder Krumenkauer. Gewöhnliche Namen wie Maier, Schmidt und Müller symbolisieren gewöhnliche Menschen und sollten auch verwendet werden. Ebenso nützlich sind komplizierte schwer auszusprechende Namen. Vergessen Sie nicht die Vornamen. Es bestehen große Unterschiede zwischen kurzen einfachen und klangvollen, möglicherweise sogar mehrfachen, Vornamen. Von allergrößter Wichtigkeit sind Titel. Probieren Sie unbedingt aus, wie Graf, Sir, von und Dr. wirken.

Wenn Sie Mühe haben, sich einige Namen auszudenken, schauen Sie einfach in das Telefonbuch oder in ein Asterix–Comic. Wahre Fundgruben sind auch die Abenteuer von Meisterdedektiv Nick Knatterton. Mi Tze Meier, die es nicht mag, wenn man ihren Vornamen Mietze ausspricht, gehört zu meinen persönlichen Favoriten.

Bei einigen Menschen sollten Sie unbedingt sagen: „Dessen Name habe ich vergessen.“ Dieser Satz hat vielfach eine vernichtende Wirkung auf ein Charakterbild.

Geübte Taschendiebe unter meinen Lesern können diesem Spiel eine besonders realistische Note verleihen, weil es ihnen vielfach möglich ist, die wahren Namen der beobachteten Personen zu erfahren. Ich muß aber aus moralischen Gründen von dieser Variante abraten.

Wollen Sie das Spiel trotzdem realitätsnäher spielen, dann spielen Sie doch einfach in den Wartezimmern von Ärzten. Die Patienten werden mit Namen aufgerufen. Hier ist das Spiel eine gute Methode, sich die teilweise elend langen Wartezeiten zu versüßen.

Eine andere Version wurde mir von einer Bekannten vorgeschlagen. Sie spielt mit Vorliebe in Bürogebäuden, vorzugsweise bei Behörden. An den Türen sind grundsätzlich die Namen angeschrieben. Sie versucht sich anhand des Namens vorzustellen, wer sich hinter einer Tür verbirgt. Dann tritt sie unter einem Vorwand ein („Guten Tag, ich suche Herrn Streber.“; „Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich verlaufen. Wo finde ich den Ausgang?“). Bei Männern, die ihr gefallen, verwendet sie „Guten Tag! Ich bin fürchterlich durstig. Kann ich hier irgendwo eine Tasse Kaffee trinken?“. Sie hat mir versichert, daß sie sich bei dieser Art des Spiels wie in einem riesigen Adventskalender vorkommt.

Sie können eine Abart des Namenspiels auch in ihrem Bekanntenkreis benutzen. Machen Sie sich Gedanken über die Menschen, die sie kennen, und überlegen Sie sich, ob die Namen zu ihnen passen. Sie werden feststellen, daß dieses häufig tatsächlich der Fall ist. Hier stellt sich die Frage, ob ein Name die charakterliche Entwicklung eines Menschen beeinflußt.

Nachdem Sie dieses Spiel gespielt haben, werden Sie wissen, wie Sie auf Namen reagieren. Sie werden sich dessen bewußt sein, daß Sie die Menschen unter anderem nach ihren Namen beurteilen, auch wenn Sie das eigentlich gar nicht wollen. Außerdem verstehen Sie nun, warum viele Menschen innerlich verletzt werden, wenn man ihren Namen vergißt. Stellen Sie also bitte niemals eine Frage wie „Entschuldigen Sie bitte, ich habe ihren Namen vergessen.“ Besser Sie verwenden Alternativen wie „Entschuldigen Sie bitte, ich habe vorhin (in dem Lärm) Ihren Namen nicht richtig verstanden.“ oder „Bei unserem letzten Zusammentreffen war ich ziemlich durcheinander. Könnten Sie mir bitte noch einmal Ihren Namen sagen?“.

Noch geschickter ist es, wenn Sie sich bei Bekannten nach dem Namen der betreffenden Person erkundigen. Geben Sie aber acht, daß Sie nicht in den Ruf geraten, ein vergeßlicher Mensch zu sein.

Falls Sie jemanden ärgern wollen, empfiehlt es sich, den Namen falsch auszusprechen. Ich selbst wurde einmal von einer unerfahrenen Fernsehmoderatorin mit „Guten Tag, Herr Springbrunnen.“ begrüßt. Verständlich, daß sie meine Empörung nur mit einem gemeinsamen Abendessen besänftigen konnte.

Die hübschesten Frauen gehen immer auf der anderen Straßenseite.
B. Müller