Mythen

Lernen wie ein Kind

Viele Sprachkurse werden mit Slogans verkauft wie kinderleicht lernen oder einfach lernen wie ein Kind.

Das ist erstaunlich, denn kindliches Lernen ist alles andere als leicht. Wir können vermuten, dass Marketingexperten, die solche Behauptungen aufstellen, sich nicht an ihre ersten drei Lebensjahre erinnern können und Kinder bisher nur aus der Ferne gesehen haben. Hier also die Realität:

  1. In den ersten 9 Monaten lernen Kinder das Hören von Silben und Wörtern. Sie lernen noch keine Bedeutungen [Merz08].

    Ein Erwachsener, der sich ein Jahr im Ausland aufhält und dabei die Sprache intensiv lernt, kann danach recht flüssig Alltagsgespräche führen.

  2. Kinder lernen zuerst einzelne Worte. Sie können die exakte Bedeutung häufig nicht erfassen. Oft wird die Bedeutung eines Wortes verallgemeinert. Beispiel: gehen kann auch komm her, geh weg oder bring mir bedeuten.

    Ein Erwachsener versucht, ein Wort korrekt zu verwenden. Deshalb ist leichter zu verstehen, was er meint. Es geht ihm aber auch Flexibilität verloren, denn in der gesprochenen Sprache wird die Bedeutung eines Wortes oft erweitert. Beispiele: Das finde ich cool (Das finde ich gut). Ein heißer Schlitten (Ein tolles Auto). Eine scharfe Braut (Eine gutaussehende Frau). Ey Alter! (Guten Tag!).

  3. Kinder bilden in den ersten Jahren praktisch keine grammatikalisch richtigen Sätze. Sie lernen einzelne Worte und fügen diese aneinander. Beispiel: Schwester Ball gehen! (Meine Freundin, hole mir bitte den Ball!)

    Ein Erwachsener kann von Anfang an ganze Sätze lernen. Sein Gehirn kann viel komplexere Strukturen verarbeiten als das eines Kindes.

  4. Ein sechsjähriges Kind besitzt einen aktiven Wortschatz von etwa 6.000 Wörtern, ein zehnjähriges beherrscht circa 10.000 Wörter [Kiese].

    Ein Kind lernt also etwa 3 Vokabeln täglich.

    Für einen Erwachsenen sind 5 Vokabeln mit Beispielsätzen in einer Abendlektion kein Problem, wenn er ein modernes Lernprogramm benutzt. Das kann jeder an sich selbst ausprobieren. Das Problem besteht eher darin, sich jeden Abend die Zeit zu nehmen.

Trotzdem, auf lange Sicht überholen Kinder gewöhnlich die Erwachsenen. Wie kann das sein?

Die Grammatik einer Sprache ist relativ fest im Gehirn verdrahtet und das kindliche Gehirn ist einfach flexibler (noch im Bau).

Ich vergleiche den Spracherwerb von Kindern und Erwachsenen gerne mit zwei Rennteams. Das Erwachsenenteam besitzt bereits einen Rennwagen, der für eine bestimmte Strecke (Muttersprache) optimiert ist. Das Kinderteam besitzt überhaupt kein Auto.

Nun treten beide Teams zu einem Rennen auf einer neuen Strecke (Fremdsprache) an. Nehmen wir an, das Erwachsenenteam besitzt einen Formel-1-Wagen und muß jetzt auf die Landstraße. Beim ersten Rennen geht das Erwachsenenteam mit einem Rennwagen an den Start, vielleicht mit Regenreifen. Das Kinderteam hat bis zu diesem Zeitpunkt gerade mal eine Seifenkiste fertiggestellt. Das Erwachsenenteam gewinnt haushoch.

Einige Jahre später treffen sich die Teams wieder. Das Erwachsenenteam hat seinen Wagen aufgrund des großen Erfolges im vorherigen Rennen nur geringfügig modifiziert (das Gehirn versucht stets, effizient zu sein), die Stoßdämpfer sind nun etwas weicher und das Chassis höher gelegt. Das Kinderteam hat einen völlig neuen Wagen konstruiert, von Grund auf optimiert für Landstraßen!

Das Rennen verläuft für das Erwachsenenteam katastrophal. Der Wagen springt zu stark bei jedem Schlagloch, der Fahrer verliert im Regen die Sicht, fährt zu schnell in eine Kurve und landet schließlich im Straßengraben. Die Kinder besitzen eine gut gefederte klimatisierte Limousine mit Dach und Scheibenwischer und müssen sich nicht einmal anstrengen, um das Erwachsenenteam zu schlagen.

Der Vergleich macht auch deutlich, dass Studien zum Sprachenlernen stark von den Randbedingungen abhängen, sollten also immer mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden.

Immersion

Mit Immersion meine ich an dieser Stelle nicht den immersiven Unterricht, wie er an manchen Sprachschulen praktiziert wird, sondern den Glauben, man müsse sich nur hinreichend einer Fremdsprache aussetzen, damit sie sich quasi automatisch im Gehirn festsetzt.

Leider beweisen Millionen von Immigranten in aller Welt das Gegenteil. Selbst Menschen, die viele Jahre in einem fremden Land leben und täglich der Sprache ausgesetzt sind, lernen die Sprache nicht von allein.

Natürlich kann man es sich einfach machen und Immigranten vorwerfen, sie seien faul und dumm (was in aller Welt ja auch gemacht wird), aber die Wissenschaft hat ein paar einleuchtende Erklärungen parat, warum Immersion nicht funktioniert:

  1. Die Immersionsbefürworter argumentieren gewöhnlich damit, dass bereits Kinder ihre Muttersprache durch Immersion erlernen und somit Immersion der natürliche Weg zum Erlernen einer Sprache ist.

    Das ist falsch! Kinder erlernen ihre Muttersprache nicht durch einfaches Hören natürlicher Umgangssprache! Gerade im zweiten und dritten Lebensjahr müssen sich Erwachsene sehr intensiv um die kindliche Sprachentwicklung bemühen. Jeder, der sich schon einmal mit einem Kind beschäftigt hat, weiß, dass man mit kleinen Kindern nicht in natürlicher Sprache spricht, sondern viel Zeit damit verbringt, ihnen einzelne Wörter und einfache Sätze beizubringen. Wenn dieser Intensivunterricht fehlt, bleiben Kinder in der Sprachentwicklung zurück [Arirang] [Knetfeder].

    Erst nach einigen Jahren, wenn ein gewisses Basisverständnis für die Muttersprache vorhanden ist, können Kinder den Rest der Sprache durch Immersion erlernen.

  2. Inhalt, der für das Gehirn zu komplex ist, rauscht einfach nur vorbei und wird nicht gespeichert[Spitzer].

    Wir lernen am besten in einem gewissen Komplexitätsfenster. Dinge, die zu einfach sind, empfinden wir schnell als langweilig, Dinge, die zu schwer sind, können wir überhaupt nicht lernen. Deshalb müssen wir erst einmal das Einfache erlernen und uns langsam an das Komplexe herantasten.

    Die Erfahrungen mit Kindern, Immigranten und die Tatsache, dass an den Schnittstellen zwischen Kulturen häufig Pidgins entstehen anstatt mehrsprachiger Menschen, sprechen dafür, dass natürliche Sprache zu komplex ist, um sie durch Immersion zu erlernen.

  3. Wir lernen nur das, auf das wir unsere Aufmerksamkeit richten [Spitzer].

    Das bedeutet, wir müssen uns aktiv mit den Dingen beschäftigen, die wir lernen wollen (also lernen). Irgend eine Nebenbeihintergrundbeschallung mit Sprache funktioniert also nicht.

Um zu verdeutlichen, wie schwer es ist, eine Sprache durch Immersion natürlicher Sprache zu erlernen, hier ein kleines Beispiel.

Nehmen wir einmal an, wir wären Ausländer und arbeiten in Deutschland. Um Deutsch zu erlernen, lauschen wir jedesmal aufmerksam, was die Kollegen sagen, wenn wir einen Raum betreten. Das Ergebnis könnte ungefähr so aussehen:

  1. Tür zu, du A...!

  2. Tür zu, bitte!

  3. Bitte Tür zu!

  4. Tür zu, es zieht!

  5. Tür zu!

  6. Klappe zu!

  7. Mach zu!

  8. Mach zu, das Teil!

  9. Mach die Tür zu!

  10. Mach bitte die Tür zu!

  11. Mach doch mal die Tür zu!

  12. Mach doch mal bitte die Tür zu!

  13. Machen Sie bitte die Tür zu!

  14. Machen Sie bitte einmal die Tür zu!

  15. Schließen Sie die Tür!

  16. Schließen Sie doch mal die Tür!

  17. Schließen Sie bitte die Tür!

  18. Schließ doch mal die Tür!

  19. Schließ die Tür!

  20. Schließ bitte die Tür!

  21. Zieh mal hinter dir!

  22. Es zieht!

  23. Macht hoch die Tür, die Tor macht weit! (Ironie)

  24. Bitte schließen Sie die Tür!

  25. Bitte machen Sie die Tür zu!

  26. Würden Sie bitte die Tür schließen?

  27. Würden Sie bitte die Tür zumachen?

  28. Können Sie nicht einmal die Tür schließen?

  29. Kannste die Tür nicht zumachen?

  30. Was ist mit der Tür?

  31. Mir ist kalt!

  32. Draußen ist es kalt!

  33. Ist die Tür geklaut worden?

  34. Warum ist die Tür auf?

  35. Tür auf, Tür zu! (besonders in der Vorweihnachtszeit gibt es diese Anspielung auf Adventskalender)

  36. Ein eisiger Wind zieht durchs Zimmer!

  37. Die Tür ist auf!

  38. Verfolgen wir jetzt die Politik der offenen Türen?

  39. Schon wieder!

  40. Eisblumen! Wir sind wie Eisblumen! (Jemand fängt an zu singen)

  41. Ist wieder Fön?

  42. Huuiii! Hier macht einer Wind!

Versteht eigentlich irgend jemand, warum Koreaner und Japaner regelmäßig an deutschen Höflichkeitsformen verzweifeln? ;-)

Das Problem am immersiven Lernen ist einfach die extreme Vielfalt der gesprochenen Sprache. Es gibt zwar immer wenige einfache Formen, die für die Verständigung völlig reichen, aber Muttersprachler halten sich selten daran. Sie haben Jahrzehnte gebraucht, um ihre Muttersprache bis in den letzten Winkel (ok, vielleicht nicht ganz) auszureizen und sie tun das auch.

Wir beenden frustriert den Immersionsversuch, besuchen einen Sprachkurs und lernen Bitte schließen Sie die Tür! Das klingt zwar manchmal etwas förmlich, aber es funktioniert und die grammatikalische Form ist auch für andere Bitten verwendbar.

Wie extrem schwer es ist, natürliche Sprache zu entschlüsseln, zeigen auch die Erfahrungen mit dem Navajo-Code. Die Amerikaner setzten ab 1942 im Pazifikkrieg Navajo-Muttersprachler ein, um militärische Nachrichten zu übertragen. Der Code konnte nie geknackt werden [CIA08].

Einige werden jetzt einwenden, dass es immersiven Sprachunterricht gibt und dass dieser funktioniert. Immersiver Sprachunterricht funktioniert aber nur unter bestimmten Bedingungen (die Angaben beruhen auf meinen eigenen Erfahrungen):

  1. Es muß ein gewisses Hörverständnis für die Laute der Fremdsprache vorhanden sein.

    Für kleine Kinder ist das relativ leicht. Das Hörverständnis von Erwachsenen ist jedoch hochgradig an ihre Muttersprache angepaßt. Das heißt, sie können viele Laute nicht mehr korrekt wahrnehmen, sondern deuten sie als Laute ihrer Muttersprache um.

    Was dann passiert, verdeutlichen die zahlreichen Buffalax-Parodien auf YouTube wie dieses Video einer koreanischen Girl Group: Girls' Generation, Run Devil Run.

  2. Der Lerninhalt muß sehr sorgfältig ausgewählt werden, damit der Schüler ein Verständnis für die Grundstrukturen der Sprache bekommt. Das ist die Basis für späteres eigenständiges Lernen.

  3. Der Komplexitätsgrad muß dem Wissen der Schüler angepaßt sein.

    Das ist ziemlich blöd, denn immersiver Unterricht wird gerne dort eingesetzt, wo Schüler aus verschiedenen Ländern eine Sprache erlernen sollen. Der Lehrer muß dann nicht die Sprache der Schüler sprechen. Aber ein Japaner, der Koreanisch erlernen will, bringt ganz andere Voraussetzungen mit als ein Deutscher, weil Koreanisch und Japanisch eine sehr ähnliche Grammatik besitzen. Der Japaner beherrscht also bereits einen großen Teil der koreanischen Sprache.