Wieviele Wörter brauche ich für was?

Sprechen

Lernziele sind zwar schön und gut, aber so mancher wird sich jetzt fragen, wie viele Wörter er nun tatsächlich benötigt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

  1. Reiseführer enthalten ein paar Hundert Vokabeln und Redewendungen für Touristen.

    Das klingt nach wenig, aber ich bin immer wieder begeistert, wie viel sich mit wenig Wörtern ausdrücken läßt. Die Sprache toki pona kommt mit 123 Wörtern aus und ich empfehle jedem, mal den einen oder anderen Blick in die Sprachlektionen zu werfen.

    Ein Affe kann übrigens mehr als 600 Gesten der Gebärdensprache erlernen [Zoo].

  2. Sprachlehrbücher enthalten meistens um die 1.000 Vokabeln.

  3. Basic English kommt mit 850 Wörtern aus.

    Basic English ist ein stark vereinfachtes Englisch, mit dem sich trotzdem über 20.000 englische Wörter umschreiben lassen.

  4. Die Wikipedia gibt es auch in Simple English. Simple English ist ein erweitertes Basic English und enthält etwa 1.500 Wörter. Simple English sollte ausreichen, damit ein Schüler damit auf eigene Faust weiterlernen kann.

    Als Beispiel hier ein Wikipedia-Artikel in vereinfachtem und in normalem Englisch:

  5. Kleine Reisewörterbücher enthalten circa 3.000 Vokabeln.

  6. Ein Grundschulwörterbuch enthält bereits über 10.000 Wörter (ungefährer Wortschatz eines 10-jährigen).

  7. Ich halte ein Reisewörterbuch mit 20.000 Einträgen in Händen und frage mich verwundert, warum ein Reisewörterbuch den Wortschatz eines jugendlichen Muttersprachlers übersteigen muß?

  8. Pidgins sind stark reduzierte Sprachen, die dort entstanden, wo sich verschiedensprachige Völker miteinander verständigen wollten, z.B. um miteinander zu handeln.

    Diese Sprachen bestehen typischerweise aus 750 bis 1.500 Wörtern sowie einer stark vereinfachten Grammatik [Spitzer].

    Wenn wir heute Händler aus alten Zeiten bewundern, die durch die Welt reisten und sich in fünf verschiedenen Sprachen verständigen konnten, sollten wir uns immer bewußt sein, dass ihre Fremdsprachenkenntnisse nicht besser waren als die eines deutschen Abiturienten. Die lernen zwar meistens nur zwei Fremdsprachen, beherrschen darin aber deutlich mehr Vokabeln.

Wer sich etwas mit Basic English und Pidgins beschäftigt hat, könnte zu dem Schluß kommen, dass man mit 1.000 Wörtern schon recht gut durch den Alltag kommt. Tatsächlich kann man damit bereits sehr vieles ausdrücken, doch um eine Sprache zu verstehen, ist viel mehr nötig. Muttersprachler tendieren dazu, sich vielfältig auszudrücken. Natürlich reicht es prinzipiell zu sagen Es regnet, aber der Muttersprachler bevorzugt vielleicht Es gießt, Es schüttet, Es pladdert, Der Himmel hat seine Tore geöffnet oder gar Die Englein pinkeln.

Verstehen

Wie viele Wörter sind notwendig, um eine Sprache zu verstehen? Dazu kann man einfach verschiedene Texte mit einem Computerprogramm analysieren und feststellen, wieviele Wörter wieviel Prozent eines Textes abdecken.

Die folgenden Angaben beruhen auf meinen eigenen Analysen, stimmen aber mit diversen Literaturangaben überein. Da solche Messungen stets von den verwendeten Texten abhängig sind, können sie nur als Richtwerte verstanden werden.

  1. 100 Wörter decken 50% eines Textes ab.

  2. 300 Wörter decken 66% eines Textes ab.

  3. 1.000 Wörter decken 80% eines Textes ab.

  4. 3.000 Wörter decken 90% eines Textes ab.

  5. 6.000 Wörter decken über 95% eines Textes ab.

In der Realität wird die Sache noch etwas komplizierter, weil reale Sprache eine große Anzahl von Metaphern, Idiomen und Anspielungen enthält. Die pure Kenntnis der Vokabeln reicht dann nicht aus, um die Bedeutung zu verstehen, sondern es muß auch umfangreiches kulturelles Hintergrundwissen vorhanden sein.

Beispiel: Student und Alkohol

Damit sich jeder ein eigenes Bild davon machen kann, was es bedeutet, nur einen Teil eines Textes zu verstehen, habe ich zur Veranschaulichung einen Teil des Vortrages Student und Alkohol von Leopold Loewenfeld in verschiedenen Stufen unkenntlich gemacht.

Ich habe einfach jedes x-te Wort durchge-x-t. Das ist natürlich nicht sonderlich exakt, weil kein konkreter Wortschatz berücksichtigt wurde, aber ich finde es sehr illustrativ.

300 Wörter, 66% Textverständnis

Wenn man xxx Stellung der xxxxxxxxx Studentenschaft der xxxxxxxxx zur Alkoholfrage xxxxxxxxxx will, stößt xxx zunächst anscheinend xxx eine Schwierigkeit. xx ist, als xx man die xxxxxxxx der Deutschen xxxxxxxxx zur Alkoholfrage xxxxxxxxx wollte. Wir xxxxxx aber, daß xxx unseren lieben xxxxxxxxx Mitbürgern alle xxxxxxxxxxx und Variationen xxx Ansichten vertreten xxxx, die überhaupt xx Bezug auf xxx Alkoholfrage vorkommen. xxx den Anhängern xxx absoluten Abstinenz, xxx am liebsten xxx Alkoholproduktion aus xxx Welt schaffen xxxxxx, bis zu xxxxx, die ihren xxxxxxxx Lebensgenuß im xxxxxxx erblicken, finden xxx bei den xxxxxxxxxxx der deutschen xxxxxx alle Übergänge, xxx ähnlich liegen xxx Dinge bei xxx Studentenschaft.

1.000 Wörter, 80% Textverständnis

Wenn man die Stellung xxx deutschen Studentenschaft der Gegenwart xxx Alkoholfrage besprechen will, stößt xxx zunächst anscheinend auf eine xxxxxxxxxxxxx. Es ist, als ob xxx die Stellung der Deutschen xxxxxxxxx zur Alkoholfrage behandeln wollte. xxx wissen aber, daß bei xxxxxxx lieben deutschen Mitbürgern alle xxxxxxxxxxx und Variationen der Ansichten xxxxxxxxx sind, die überhaupt in xxxxx auf die Alkoholfrage vorkommen. xxx den Anhängern der absoluten xxxxxxxxx, die am liebsten die xxxxxxxxxxxxxxxxx aus der Welt schaffen xxxxxx, bis zu Jenen, die xxxxx höchsten Lebensgenuß im Trinken xxxxxxxxx, finden wir bei den xxxxxxxxxxx der deutschen Nation alle xxxxxxxxx, und ähnlich liegen die xxxxx bei der Studentenschaft.

3.000 Wörter, 90% Textverständnis

Wenn man die Stellung der deutschen Studentenschaft der Gegenwart xxx Alkoholfrage besprechen will, stößt man zunächst anscheinend auf eine xxxxxxxxxxxxx. Es ist, als ob man die Stellung der Deutschen xxxxxxxxx zur Alkoholfrage behandeln wollte. Wir wissen aber, daß bei xxxxxxx lieben deutschen Mitbürgern alle Abstufungen und Variationen der Ansichten xxxxxxxxx sind, die überhaupt in Bezug auf die Alkoholfrage vorkommen. xxx den Anhängern der absoluten Abstinenz, die am liebsten die xxxxxxxxxxxxxxxxx aus der Welt schaffen würden, bis zu Jenen, die xxxxx höchsten Lebensgenuß im Trinken erblicken, finden wir bei den xxxxxxxxxxx der deutschen Nation alle Übergänge, und ähnlich liegen die xxxxx bei der Studentenschaft.

Der volle Text

Wenn man die Stellung der deutschen Studentenschaft der Gegenwart zur Alkoholfrage besprechen will, stößt man zunächst anscheinend auf eine Schwierigkeit. Es ist, als ob man die Stellung der Deutschen überhaupt zur Alkoholfrage behandeln wollte. Wir wissen aber, daß bei unseren lieben deutschen Mitbürgern alle Abstufungen und Variationen der Ansichten vertreten sind, die überhaupt in Bezug auf die Alkoholfrage vorkommen. Von den Anhängern der absoluten Abstinenz, die am liebsten die Alkoholproduktion aus der Welt schaffen würden, bis zu Jenen, die ihren höchsten Lebensgenuß im Trinken erblicken, finden wir bei den Angehörigen der deutschen Nation alle Übergänge, und ähnlich liegen die Dinge bei der Studentenschaft.

Schlußfolgerungen

  1. Bereits ca. 1.500 Wörtern reichen für elementare Kommunikation.

  2. Mein persönlicher Eindruck ist, dass etwa 90% der Wörter eines Textes bekannt sein müssen, um die Bedeutung zu erfassen. Das heißt, es ist möglich, mit einigen Tausend Vokabeln die meisten Texte einer Sprache zu verstehen.

    Viele Sprachschüler wissen, dass es einen Punkt gibt, ab dem das Weiterlernen relativ einfach ist. Das ist dann der Fall, wenn die Fremdsprache einigermaßen gut verstanden wird und neue Wörter aus dem Kontext erschlossen werden können. Dieser Punkt dürfte also bei einigen Tausend Vokabeln erreicht sein.

  3. Nur 1.000 Wörter reichen aus, um 80% eines Textes zu verstehen. Aber um auf 90% zu kommen, müssen bereits 3.000 Wörter gelernt werden, also der dreifache Lernaufwand für lumpige 10%!

    Das hat zur Folge, dass Sprachschüler häufig glauben, anfangs sehr schnell zu lernen und irgendwann nicht mehr weiterzukommen. In diesem Stadium geben viele auf, obwohl sie in Wirklichkeit genau so schnell lernen wie bisher.

    Für Sprachkurshersteller ist also lohnend, sich auf Anfängerkurse zu konzentrieren. In dem Bereich gibt es mehr Schüler und bessere Kundenbewertungen, weil die Schüler glauben, anfangs schneller voranzukommen.